Und nein, hier geht’s nicht um glitzernde Einhörner. Zumindest nicht für alle. Denn jede Organisation braucht ihr eigenes Farbspektrum und ihren eigenen Stil.
Dave Snowden, der Entwickler des Cynefin Modells, hat seinen kurzweiligen, aber vor allem zum Denken inspirierenden Vortrag „Agile – A Dedicated Follower of Fashion?“ bei Lean DUS mit dieser nun schon gängigen Aussage eröffnet „Agile is dead!“. Das wussten wir schon länger, dass eine agile Schwalbe noch keinen agilen Sommer macht. Und dass wir uns immer noch warm anziehen müssen, um verkrustete Organisationsstrukturen und machtorientiertes, tayloristisches Denken zu überwinden.
Dennoch hat er es noch einmal auf den Punkt gebracht: Irgendwo auf dem Weg aus dem Vorschriftsdschungel in die frei denkende Welt ist die Zertifizierung zum standardisierten Eintrittstor in moderne Arbeitsweisen geworden. Allein schon diese Wortkombination sollte uns im Zusammenhang mit „agil“ stutzig machen: standardisiert? Eintrittstor? Da sind doch die alten Mächte des Kontrollkultur am Werk. Die Zuckerbrot-und-Peitsche-Fans, die nicht an Eigenverantwortung und mündige MitarbeiterInnen glauben. Das wäre nicht so schlimm, wenn die Bedarfe von Unternehmen immer noch die gleichen wären, wie im letzten Jahrhundert. Aber in der heutigen komplexen, VUCA geprägten Welt gibt es eben nicht das eine korrekte Eingangstor zum Erfolg.
„Agile“ Pilotprojekte
Es gibt Organisationen, die dies erkannt haben. Diese probieren es dann gerne einmal mit agilen Pilotprojekten. Die Eintrittskarte zur Mitarbeit sind natürlich die entsprechenden Zertifizierungen – je mehr, desto besser! Dabei wird aber leider oft vergessen, dass neue Besen gut kehren – auch als Hawthorne Effekt bekannt. Der besagt, dass Menschen unter künstlichen Bedingungen (z.B. in Experimenten oder eben Pilotprojekten) ihr Verhalten ändern. Somit sind alle Effekte und Schlussfolgerungen aus diesem Experiment mit Vorsicht zu genießen. Dies hat verschiedene Ursachen: Erstens bekommt das Pilot-Team mehr Aufmerksamkeit. Gemäß dem Pygmalion Effekt führt dies zu besseren Ergebnissen, quasi im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Weiterhin ist ein Team mit einer Vorreiter-Rolle sicherlich motivierter, weil es weiß, dass große Entscheidungen von dem Gelingen seines Unterfangens abhängen. Am schwerwiegendsten dürfte jedoch ins Gewicht fallen, dass solche Pilotprojekte häufig mit ohnehin schon gut funktionierenden Teams gestartet werden.
Die Bewertung der Ergebnisse solcher Pilotprojekte führt zu drei potentiellen Trugschlüssen:
- Wird der Erfolg eines solchen Teams als Beweis gesehen, dass eine agile Arbeitsweise die Lösung für früher existierende Probleme sei. Diese gut funktionierenden, eingespielten Teams wären aber gegebenenfalls auch mit anderen Vorgehensweisen erfolgreich gewesen. Falls agile Arbeitsweisen nicht angemessen für den Kontext sind, wären sie ohne „Agile“ vielleicht sogar noch erfolgreicher gewesen.
- Selbst wenn agile Frameworks eine angemessene Antwort auf den vorliegenden Kontext sind, liegt der Erfolg des Teams noch lange nicht an den agilen Praktiken, sondern häufig vielmehr an den produktiven Verhaltensweisen des Teams und an einer Kultur, die sich in agilen Frameworks besser entfalten kann, aber nicht durch diese entsteht.
- Teams, die sich ohnehin schwertun, können an die Erfolge von agilen Pilotprojekten meist nicht anknüpfen. Für sie ist die Einführung von agilen Frameworks eine zusätzliche Belastung, die sie ergänzend zu den Herausforderungen der Zusammenarbeit stemmen müssen. Das wirkt sich nachteilig auf die Arbeitsergebnisse aus. Und dann heißt es auf einmal: „Agiles Arbeiten ist nichts für uns, das klappt in unserer Organisation nicht.“ oder noch schlimmer „Wir brauchen neue Leute, die agiler kehren können!“
„Agile“ als Massenware
„Agile“ ist heute zum Massenphänomen geworden. Kaum ein größeres Unternehmen, dass sich nicht daran versucht.[i]
Gemäß der Lebenszyklus-Kurve und dem Ansatz von Geoffry A. Moore ist dies ein Zeichen dafür, dass sich Dinge bald ändern werden. Dementsprechend wartet die nächste disruptive Erneuerung in unserer Arbeitswelt nur darauf, Fuß zu fassen und sich schließlich durchzusetzen. Allerdings laufen die agilen Motoren in den großen Dampfern sich gerade erst warm. Agile Praktiken und Scrum (als eine besonders industriekompatible Version des agilen Arbeitens) verkaufen sich gerade so gut, dass neuere Strömungen davon überdeckt werden. Und auch, dass „Agile“ und seine Praktiken nicht das Allheilmittel sind, wird davon überdeckt.
Die Innovatoren und Early Adopters einer Innovation, also die ersten 15% der Käufer, sind interessiert, herauszufinden, wie etwas funktioniert. Sie haben vermutlich schon andere Ansätze / Produkte ausprobiert, und suchen nicht nach einer perfekten Lösung, die sie konsumieren können, sondern nach Möglichkeiten, ein Kopfschmerzproblem (Diana Kander) zu adressieren. Von diesen Early Adopters muss eine Innovation den Sprung in den Early Majority Markt schaffen. Diese „Frühe Mehrheit“ ist dann aber schon nicht mehr so sehr daran interessiert, wie etwas funktioniert, sondern eher an dem „Was bringt mir das?“. Das ist deutlich extrinsischer motiviert – und erklärt auch den Zulauf zu agilen Praktiken ganz schön.
Agility statt „Agile“ – Mode
Es geht nicht um das „agil Machen“, sondern darum, agil zu sein. Wenn es denn angemessen ist. Nicht alle Kontexte bedürfen einer reinen, agilen Herangehensweise. Ein agiles Mindset ist sicherlich immer sinnvoll.
Doch selbst wenn man glaubt, dass agile Arbeitsweisen die Lösung sind, vergisst man leicht, die richtigen Fragen zu stellen:
- Wie schaffen wir Raum in Organisationen für mehr Agilität?
- Wie sieht eine Kultur aus, die flexibles und situationsangemessenes Denken fördert?
- Wie ermöglichen wir mehr autonome Motivation, um sinnvolles Verhalten in Organisationen, Teams und in der Gesellschaft zu fördern?
- Was wollen wir wirklich?
Danke, Dave Snowden, für den fundierten Talk – dem dieser Artikel nicht gerecht wird. Aber ich wollte zumindest man anfangen, Fragen zu stellen.
[i] Derzeit verkaufen große Beratungen „Agile“ mit den gleichen Plattitüden, wie zuvor etwa „Blue Ocean“ oder „Web 2.0“.
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