– der Ukraine-Krieg aus motivationspsychologischer Sicht –
Gestern habe ich beschrieben, warum mich der Mut der Ukrainer:innen, mit dem sie ihr Land verteidigen, nicht nur wahnsinnig beeindruckt. Ich erkenne darin auch eine hohe autonome Motivation. Autonome Motivation entsteht, wenn die drei psychologischen Grundbedürfnisse nach Selbstbestimmtheit, Kompetenz und Eingebundenheit erfüllt sind. Und das macht mir Hoffnung, da es die Ukrainer:innen in eine bessere Lage versetzt, mit dieser fürchterlichen Situation klug und erfolgreich umzugehen. Den vollständigen Artikel findet ihr in meinem Blog https://www.innoviva-consulting.de/was-mir-hoffnung-macht-1/
In diesem Teil möchte ich mich mit der russischen Sicht beschäftigen, im nächsten Text geht es um den Blickwinkel Deutschlands (Teil 3).
Motivation der Russ:innen aus psychologischer Sicht
Natürlich treibt die Russ:innen die Loyalität zum eigenen Land an und die Überzeugung, für „das Richtige“ zu kämpfen. Denn die meisten Russ:innen sind jahrelanger Propaganda ausgesetzt gewesen, betrieben von Kommunikationsexpert:innen und Social-Media-Profis des Kremls. Es ist wahnsinnig schwer, sich dem zu entziehen, sowohl für Zivilist:innen als auch für Angehörige des Militärs. Solange die Russ:innen also dieser Propaganda glauben, ist vor allem ihr Bedürfnis nach Eingebundenheit gut erfüllt. Vielleicht wird sogar ihr Grundbedürfnis nach Kompetenz erfüllt, nämlich durch eine wahrgenommene Selbstwirksamkeit als Rädchen in diesem Getriebe. Bei der Erfüllung des Wunsches nach Selbstbestimmtheit hätte ich allerdings große Zweifel, ob der in Russland überhaupt adressiert wurde. Somit wäre der Überzeugungsgrad für alle Handlungen, die diesen Krieg mittragen, eher gering, die autonome Motivation in der Ausgangslage schon eher schwach ausgeprägt. Das weiß sogar Putin, deswegen hat er sich vermutlich diese „Z“ Symbolik ausgedacht, um die Bevölkerung und das Militär auf eine vermeintliche gemeinsame Vision einzuschwören.
Ein weiteres Problem entsteht aus dem Umgang mit kognitiver Dissonanz: Dem Spannungszustand, der entsteht, wenn z.B. unsere Handlungen nicht zu unseren Überzeugungen passen. Um diesen Widerspruch aufzulösen, können wir entweder unser Verhalten ändern, oder aber an unseren Überzeugungen drehen. In einer Welt voller Propaganda und Falsch-Informationen, in der Regime-kritisches Verhalten zudem gefährlich ist, fällt es Menschen oft leichter, die Überzeugung für das Verhalten zurechtzuschieben. Erst recht, wenn ihnen eine niederschwellige Möglichkeit geboten wird, mit der sie ihr bisheriges Verhalten nicht hinterfragen müssen. Denn wenn man das eigene Verhalten hinterfragen muss, hat das oft auch negative Auswirkungen auf den Selbstwert und die eigene Identität. Daher ist es leichter, sich mit „alternativen Fakten“ eine realitätsferne Weltanschauung aufzubauen. Und so eine Parallel-Welt kann wiederum ein Nährboden für Radikalisierung werden. Auch diesem Umstand müssen wir Rechnung tragen, wenn wir uns mit der Motivation der Russ:innen beschäftigen, für oder gegen diesen Krieg einzutreten.
Und dennoch steht die autonome Motivation für diesen Krieg auf sehr dünnem Eis: Denn wenn das Märchen von der „von Nazis zu befreienden Ukraine“ an der Realität zerschellt, kann den Menschen klar werden, dass sie nicht nur angelogen wurden, sondern auch kaltblütig geopfert werden. Diese Erkenntnis verletzt alle drei psychologischen Grundbedürfnisse gleichzeitig: Den Menschen wird klar, dass sie nie selbstbestimmt entscheiden konnten. Wenn den Soldat:innen erklärt wird, sie führen nur zu einer Übung, ist es schon ein herber Schlag, sich auf einmal in einem Krieg wiederzufinden. Teile der Bevölkerung erleben, dass all ihr Handeln nicht auf ihre eigene Kompetenz eingezahlt hat, sondern nur der Erfüllung der Machtgier des Regimes von Putin. Den Soldat:innen werden jetzt Kriegshandlungen befohlen, die ihren menschlichen Überzeugungen widersprechen. Und das spricht sich auch in der Bevölkerung rum. Manche Russ:innen erkennen, dass ihre Vision manipuliert wurde und ihre Loyalität einem mörderischen System galt. Wir müssen es schaffen, dass diese Russ:innen diese kognitive Dissonanz auf eine Weise auflösen, die dem Krieg den Treibstoff entzieht und autonome Motivation für Friedensbestrebungen ermöglicht.
Wie verhält es sich nun mit Russ:innen, deren autonome Motivation wirklich ins Eis eingebrochen ist? Diese Menschen schwimmen also verzweifelt im eiskalten Wasser: Sie befinden sich in einer sehr bedrohlichen Lage – sowohl psychologisch betrachtet als auch dadurch, dass sie in einem diktatorisch regierten Land leben. Denn die Erkenntnis, dass man einer gesellschaftlichen Lebenslüge aufgesessen ist, ist schwer zu verkraften. Die psychologisch gesunde Reaktion darauf wäre, sich die Erfüllung der Grundbedürfnisse zurückzuerobern. Sich zu informieren und selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Die eigenen Kompetenzen auszubauen, zu lernen und die eigene Selbstwirksamkeit zu erhöhen. Und natürlich eine neue Vision zu schaffen und daran zu arbeiten, sie wahr werden zu lassen.
Alle drei Strategien sind mit Gefahren für die Menschen selbst und für die Menschen, die ihnen nahestehen, verbunden. Die Russ:innen, die gegen den Krieg protestieren, werden verhaftet und bedroht. Und auch wenn ein Teil der Loyalität durch Angst erzeugt wurde, ist diese Angst doch sehr berechtigt.
Was können wir also tun, um die Motivation, sich gegen diesen Krieg zu wehren, zu erhöhen?
Wir sollten die Selbstbestimmtheit der Russ:innen stärken. Ihnen objektive Information und Berichterstattung zukommen lassen, damit sie wieder mündige Entscheider:innen werden können, die ihre eigenen Schlüsse ziehen. Wir sollten ihnen Angebote machen, sich auf sichere Weise gegen den Krieg zu stellen. Dies kann heißen, dass wir Menschen, die Russland jetzt verlassen wollen, Schutz anbieten. Es kann sogar bedeuten, dass wir Soldat:innen, die desertieren wollen, diesen Schritt gezielt erleichtern.
Denn selbst, wenn nur ein Bruchteil der Menschen diese Angebote tatsächlich annehmen würde, könnten wir allein dadurch, dass wir ihnen eine Wahlmöglichkeit geben, ihr Bedürfnis nach Selbstbestimmtheit erfüllen. Im Klartext: Deutschland und das demokratische Europa können durch gezielte Erfüllung der psychologischen Grundbedürfnisse von Russ:innen eine attraktive Alternative zum russischen Terror-Regime aufzeigen. Wir können die Kraft der russischen Bevölkerung stärken, sich gegen diesen Krieg zu wehren.
Und wenn wir den Menschen in Russland ermöglichen, sich mit anderen Regime-Kritikern zu vernetzen, könnte dies eine neue Gemeinschaft stärken. Solidarität aus Deutschland mit der russischen Bevölkerung, die auch Opfer dieses Krieges ist, kann diesen Menschen einen Ausweg bieten.
Wer sich engagieren möchte: bitte hier entlang ;-)
Am 01.04. veranstalten Kolleg:innen und ich den pro bono den online Workshop „Make Ideas Not War“. Anmelden könnt ihr euch auf dem Miro-Board: https://miro.com/app/board/uXjVOFW2kHI=/
Unter den Fragestellungen, die wir mit einer Kollegin erarbeitet haben, die selbst fliehen musste, ist auch eine Frage dazu, wie Frieden und Demokratie gestärkt werden können. Autonome Motivation spielt dabei eine große Rolle.
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